Kultur beginnt dort, wo keiner hinschaut

Wie emotionale Dynamiken Kultur formen, lange bevor Werteplakate oder Leitbilder greifen.

Wenn keiner widerspricht und doch alle etwas spüren

Als der Projektleiter in der Teamsitzung sagte, „Das kriegen wir schon irgendwie hin“, herrschte plötzlich gespannte Stille. Niemand nickte. Niemand widersprach. Ein Kollege senkte den Blick. Eine andere tippte auf ihrem Block, als sei sie beschäftigt. Die Führungskraft fuhr fort, sprach über Meilensteine und Zeitpläne nicht wissend, dass in diesem Moment die kulturelle Realität der Abteilung deutlich sichtbar wurde. Nicht in dem, was gesagt wurde, sondern in dem, was nicht offen kommuniziert und nonverbal zum Ausdruck gebracht wurde.

Unternehmenskultur zeigt sich nicht in Strategiefolien oder hübschen Imagekampagnen, sondern in den Mikroreaktionen des Alltags. Sei es im Umgang mit Unsicherheit, Druck oder auch dem Scheitern. Schnell wird deutlich, ob Leitbilder gelebt werden oder bloße Worthülsen bleiben. Entscheidend ist, ob Offenheit und Authentizität spürbar sind oder ob Schweigen und Wegsehen dominieren.

Kultur

Kultur ist emotional, nicht rational

Psychologisch betrachtet verstehen wir Unternehmenskultur als ein komplexes, oft unbewusstes Geflecht aus emotionalen Erfahrungen, impliziten Regeln und verinnerlichten Erwartungen. Kultur entsteht an der Schnittstelle interpersoneller Dynamiken, genauer im Spannungsfeld von Resonanz oder Distanz, emotionaler Sicherheit oder subtiler Verunsicherung. Das soziale Gefüge bewegt sich zwischen Nähe, Rückzug, Anpassung und Konfrontation in ständiger, feiner Neuausrichtung.

Neurowissenschaftliche Studien zeigen, dass unser Gehirn soziale Signale unbewusst und in Millisekunden verarbeitet. Blitzschnell entsteht ein inneres Urteil: Bin ich hier sicher? Kann ich mich zeigen oder muss ich mich schützen? Aus diesem primären Eindrücken können überdauernde Beziehungsmuster entstehen, die das Miteinander im Team, mit Führungskräften oder in Veränderungsprozessen dauerhaft prägen.

Eine wegweisende Studie von Naomi Eisenberger und Matthew Lieberman (UCLA, 2003) zeigt, dass soziale Ausgrenzung im Gehirn ähnliche Areale aktiviert wie physischer Schmerz. Bereits minimale Signale von Nicht-Zugehörigkeit, wie etwa ein abgewandter Blick im Gespräch oder kollektives Schweigen, lösen im Gehirn Stressreaktionen aus. Emotionale Reaktionen sind somit weit mehr als „weiche“ Randnotizen. Sie zeigen uns, ob psychologische Sicherheit gegeben ist oder ob ein Rückzug notwendig scheint.

Übergangsphasen machen Kultur sichtbar

Besonders in Phasen des Übergangs, wie bei Reorganisationen, Rollenwechseln oder neuen Führungsstrukturen werden diese unbewussten Dynamiken deutlich. Die offiziellen Entscheidungen mögen klar kommuniziert sein, doch die emotionale Realität bleibt oft diffus. Wer darf was sagen? Wie wird mit Widerstand umgegangen? Was passiert mit jenen, die leiser, langsamer oder unsicher sind?

Hier entscheidet sich, ob Wandel gelingt oder ob alte Muster unter der Oberfläche weiterwirken. Aus psychodynamischer Perspektive ist klar, dass Organisationen neben den bestehenden Strukturen auch über emotionale Felder wirken. Unverarbeitete Spannungen, Tabus oder Loyalitätskonflikte wirken im Hintergrund und verhindern oft genau jene Veränderung, die im Leitbild längst steht.

Wie Veränderung wirklich beginnt

Kulturwandel setzt dort an, wo emotionale Signale nicht abgewehrt, sondern als wertvolle Information verstanden werden. Das heißt nicht, dass Gefühle ungebremst ausagiert werden, sondern dass sie Raum bekommen, bewusst reflektiert zu werden. Gerade Führungskräfte sind hier als Präsenzgeber gefragt. Wer Spannungen anspricht, Ambivalenz aushält und Unsicherheit nicht reflexhaft glättet, legt den Grundstein für eine gesunde, resiliente Kultur.

“Fazit”

Kultur ist das, was unter der Oberfläche wirkt
Kultur wächst, wenn ein Unternehmen die vorhandenen Stärken und Prägungen neu betrachtet. Erkennen Teams ihre emotionalen Muster bewusst und sprechen sie offen an, ebnen sie damit den Weg zu dauerhaftem Wandel, den man an der Qualität des Miteinanders erkennt. Mitarbeitende gehen souverän mit Unsicherheit um, Vertrauen entwickelt sich spürbar und Offenheit bleibt selbst in schwierigen Momenten erhalten.

Autorin: Vivien Soppa

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